Sonntag, 5. April 2020



Er sitzt einfach nur da. Die Sonne versinkt immer schneller hinter den Häusern. Dann ist sie weg. Es wird gleich kälter in seinem Zimmer. Das Fenster steht noch offen. Er merkt das alles aber erst, als er eine Pause einlegt. Er ist am Spielen. Da vergisst er immer alles um sich herum. Das Wetter, die Zeit, das Essen, ja sogar aufs Klo zu gehen. Dann, Stunden später, schaut er auf. Es ist dunkel draußen. Im Haus ist es still. Der Magen knurrt. Die Blase drückt. Er ist verwirrt. Er steht auf, geht aufs Klo, schmiert sich ein Nutella-Brot. Er sitzt da, noch völlig benommen. Dann zeichnet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab. Wo er gerade überall unterwegs war, denkt er sich, in der Metro von Paris, dann plötzlich vor dem Big Ben in London, der Sonnenuntergang auf dem Empire State Building, ein Eis am Strand von Miami, was für ein erfolgreicher Tag! Er sitzt immer noch da und hängt seinen Gedanken nach. Die Standuhr im Wohnzimmer schlägt viermal. Wie schnell die Zeit vergeht, denkt er. Dann liegt er im Bett. Er kann nicht schlafen. Der Mond wirft wirre Streifen durch die Fensterläden in seinem Zimmer. Irgendwo anders, denkt er, stehen die Menschen jetzt schon wieder auf. Dann denkt er an sie. Sie steht jetzt wahrscheinlich auf. Er hat sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Er wollte sie immer besuchen kommen, ihre Welt kennenlernen. Er ärgert sich. Überall ist er unterwegs, jeden Winkel der Erde kann er erkunden. Alles sehen, alles ist so real, so echt. Wenn er spielt, ist er in der Welt. Das ist seine Welt. Das ist sie schon so lange. Seit er sie das letzte Mal gesehen hat. Er schläft nur langsam ein, döst eher. Denkt an sie. Schwarze Haare hat sie. Lange schwarze Haare. Und so weich, als könnte er sie spüren. Er schreckt auf. Versucht sich zu beruhigen. Wo ist er? Wo auf der Welt ist sein Platz? Er öffnet ein Fenster. Die kalte Nachtluft strömt in sein Zimmer. Er ist gefangen. Gefangen zwischen Realität und Spiel. Nimmt nichts mehr war. Er hat sich verloren. Was ist er denn noch, wenn er nicht spielt? Er legt sich wieder hin. Dann kommen ihm die Tränen. Er weint, lautlos und ohne jegliche Bewegung. Er weint alles raus, bis er leer ist, ganz leer. Warum?, fragt er sich. Und das ist nur die erste Frage, die er sich dann stellt. Irgendwann schläft er dann doch noch ein. Es ist halb sieben, als er aufwacht. Wie immer geht er als erstes zu seinem Computer und schaltet ihn ein. Dann macht er sich einen Kaffee. Er startet sein Spiel. Geht aufs Klo, kippt den Kaffee runter und taucht in seine Welt ein. In die Welt, in der er sich auskennt. Reist von einem zum anderen Ort. Was sucht er? Er fühlt sich komisch, er fühlt sich leer. Dann ist er an dem Ort, den er gesucht hat. Er weiß es. Er weiß es, ohne, dass er es jemals erfahren hätte, von ihr. Sie hat es ihm nie erzählt und doch erkennt er es sofort wieder. Sie hat ihm keine Namen genannt, kein Land. Sie hat es ihm nur beschrieben. Er sieht es und weiß es. Er kann nicht weiter spielen, ist wie betäubt. Wie heißt dieser Ort? Er sucht, er findet. Wie von anderer Hand geführt, öffnet er ein neues Fenster auf seinem Computer, das hat er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Er bucht einfach ein Ticket. Sein Konto ist jetzt leer. Er hat nichts mehr. Er braucht nichts mehr. Nichts hält ihn, nichts erwartet ihn mehr, hier an diesem Ort. Dann geht alles ganz schnell. Er weiß, er ist nicht er selbst. Er ist es nicht, der ihn führt und doch weiß er, dass es stimmt. Er macht sich nochmal einen Kaffee, schreibt seiner Familie einen Abschiedsbrief, schultert seine Tasche und läuft los. Es ist halb acht. Das Flugzeug geht um elf. Das sollte reichen. Er läuft, er atmet die Luft, bewegt sich. Schon jetzt fühlt er sich wie neu geboren. Er hüpft und springt umher. Er ist lebendig. Dann ist er da. Schnell findet er seinen Platz. Wie lange war er schon nicht mehr am Flughafen? Oder war er überhaupt schon einmal hier? Er weiß es nicht mehr. Er weiß nichts mehr aus seinem Leben. Er ist jetzt ein anderer Mensch. Alles, was davor war, ist wie ausgelöscht. Alles, bis auf seine Erinnerungen an sie. Ja, sie, denkt er. Dann hebt das Flugzeug ab und er schaut ein letztes Mal auf seine Stadt. Seine Stadt, an die er sich jetzt schon nicht mehr erinnert. Er schließt die Augen. Auf seinem Gesicht macht sich ein Lächeln breit. Ein anderes Lächeln als in der Nacht davor. Ein entspanntes Lächeln, ein echtes, ein feines, ein leichtes. Eines voller Lebenslust.

Daheim steht seine Mutter auf. Sie geht erst in die Küche, um Kaffee zu kochen. Dann geht sie ins Esszimmer, um den Frühstückstisch zu decken. In der Tür erstarrt sie. Der Tisch ist gedeckt. Auf allen Plätzen stehen Teller, Marmelade und Honig in der Mitte. Haferflocken am Tischende. Ein Platz ist nicht gedeckt. Es ist sein Platz. Dort liegt ein kleiner Zettel, ein Karopapier. Für euch, die ich euch liebe, steht darauf. Sie setzt sich. Dann öffnet sie das Papier und beginnt zu lesen. Ihr wird leicht ums Herz, als sie fertig ist. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht, aber sie ist nicht traurig. Sie freut sich und erinnert sich an sie, an ihre schwarzen langen Haare, an ihr Lächeln. Und sie versteht ihn und weiß, dass er seinen Weg gefunden hat.



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